Die Liebe – Wenn zwei Herzen
sich erinnern
Es gibt eine Kraft, die leiser ist als der Wind und doch
stärker als der Sturm, die uns hebt, wenn wir fallen,
und uns zerbricht, wenn wir an ihr festhalten wollen wie
an einem Vogel, den man nicht einsperren kann. Es gibt
eine Kraft, die uns ganz macht und uns entblößt, die uns
nach Hause führt und uns ins Unbekannte treibt – eine
Kraft, die keinen Namen braucht und doch in allen
Sprachen besungen wird.
Die Liebe.
Man sagt, die Liebe sei ein Gefühl, ein Zustand, eine
Emotion, doch das greift zu kurz, das greift daneben.
Liebe ist nicht etwas, das kommt und geht wie die
Jahreszeiten. Sie ist nicht das Feuer, das heiß brennt
und dann in Asche zerfällt. Sie ist nicht das, was
vergeht. Liebe ist, was bleibt.
Wenn zwei Herzen sich erinnern
Es gibt Begegnungen, die sind nicht zufällig, sie sind
wie ein Echo aus einer Zeit, die wir nicht mehr kennen,
aber die uns in den Knochen liegt. Manchmal blickst du
in die Augen eines Menschen und etwas in dir hält den
Atem an, weil du erkennst, was du nie vergessen hast.
Liebe ist keine Erfindung dieses Lebens. Sie ist älter
als unsere Körper, älter als unsere Geschichten.
Vielleicht sind wir nicht nur Menschen, die einander
treffen, sondern Seelen, die sich wiederfinden, Seelen,
die einst schon gemeinsam gegangen sind, die sich
berührt haben, bevor es Namen gab, bevor es Worte gab.
Wenn zwei Menschen sich
wirklich begegnen – nicht an der Oberfläche, nicht in
dem, was höflich ist oder erwartet wird, sondern in
ihrer Essenz –, dann geschieht etwas, das nicht zu
erklären ist. Es ist, als würde etwas in ihnen erwachen,
als würde sich etwas in ihrem Innersten erinnern:
Ich kenne dich. Ich
kenne dich seit immer.
Und in diesem Moment beginnt die Liebe zu fließen, nicht
als Besitz, nicht als Vertrag, nicht als Sicherheit,
sondern als etwas, das lebendig ist, das wächst, das
sich entfaltet, wenn es nicht gefangen wird.
Die Resonanz zweier Herzen
Wenn zwei Herzen im gleichen
Rhythmus schlagen, dann geschieht etwas, das größer ist
als sie selbst. Es ist, als würde eine unsichtbare Saite
zwischen ihnen vibrieren, als würde eine Brücke
entstehen, die nicht aus Stein ist, sondern aus etwas,
das weder Zeit noch Raum kennt.
Liebe ist keine Addition – sie ist keine Rechnung, in
der eins und eins zwei ergibt. Liebe ist ein
Zusammenschwingen, ein sich Finden in etwas, das immer
da war. Sie ist wie Musik, die nur dann entsteht, wenn
beide sich nicht nur hören, sondern einander fühlen,
wenn sie nicht nur sprechen, sondern wirklich lauschen.
Und wenn sie sich dann berühren – nicht nur mit den
Händen, sondern mit ihren Wesen –, dann ist das nicht
bloß ein Moment, sondern eine Ewigkeit, die in einen
einzigen Augenblick geflossen ist.
Aber warum, wenn die Liebe so tief ist, so ewig, so
unzerstörbar – warum dann der Schmerz? Warum tut es so
weh, wenn wir verlieren, was wir doch nie besessen
haben?
Warum der Schmerz?
Vielleicht tut es nicht weh, weil die Liebe vergeht –
denn wahre Liebe vergeht nicht. Vielleicht schmerzt es,
weil wir etwas berührt haben, das größer war als wir,
und dann glauben, es wieder verloren zu haben.
Aber Liebe ist nicht der Schmerz. Schmerz ist das Echo
des Glaubens, dass etwas endet. Schmerz ist die
Sehnsucht nach dem, was wir für unwiederbringlich
halten. Schmerz ist der Schatten der Liebe, wenn wir
vergessen, dass Liebe nicht endet, sondern sich nur
wandelt.
Wenn ein Mensch geht, wenn eine Liebe, die uns getragen
hat, nicht mehr in unserem Leben ist, dann fühlt es sich
an, als würde etwas in uns herausgerissen werden. Aber
nichts wird wirklich genommen. Denn was einmal in uns
war, bleibt in uns. Was einmal in uns geleuchtet hat,
kann nicht verlöschen.
Vielleicht ist der Schmerz nur die Geburt eines neuen
Verstehens. Vielleicht ist er nicht das Ende, sondern
der Anfang einer tieferen Erkenntnis: dass Liebe nie
Besitz war, dass Liebe nie ein Versprechen für die
Zukunft war, sondern immer nur ein Geschenk des
Augenblicks.
Was bleibt, wenn jemand geht?
Wenn jemand geht, bleibt nicht die Leere – auch wenn es
sich so anfühlt. Was bleibt, ist alles, was war. Jeder
Blick, der uns durchdrungen hat. Jede Berührung, die
nicht nur die Haut, sondern die Seele erreicht hat. Jede
Stille, in der wir wussten, dass wir nicht allein sind.
Vielleicht ist Liebe nicht das, was wir festhalten
können, sondern das, was uns verwandelt. Vielleicht ist
Liebe nicht die Sicherheit, dass jemand bleibt, sondern
die Gewissheit, dass jemand uns berührt hat, so tief,
dass nichts uns je wieder trennen kann.
Wenn wir das verstehen, dann können wir aufhören, gegen
den Verlust zu kämpfen. Dann können wir aufhören, das
Leben zu messen in dem, was bleibt oder geht. Dann
können wir erkennen, dass wir nie weniger sind, wenn
jemand uns verlässt.
Denn Liebe ist nicht das, was kommt und geht. Sie ist
das, was war, was ist, was immer sein wird.
Die Liebe jenseits der Zeit
Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, aber das stimmt
nicht. Zeit heilt nichts. Sie deckt nur zu, was wir
nicht fühlen wollen. Aber wenn wir uns trauen, wirklich
hinzusehen, wirklich zu fühlen, dann erkennen wir: Es
gibt keine Wunde, denn es gibt keinen wirklichen
Verlust.
Die Liebe, die einmal in uns war, bleibt. Die
Verbindung, die einmal war, besteht fort – vielleicht
nicht mehr in dieser Welt, nicht mehr in dieser Form,
aber in einer Tiefe, die Zeit nicht berühren kann.
Wir sind nicht gemacht für Gewinn und Verlust. Wir sind
nicht Wesen, die etwas erringen oder verlieren können.
Wir sind gemacht für die Ewigkeit, für das, was bleibt,
für das, was tiefer ist als alles, was Augen sehen oder
Hände greifen können.
Und vielleicht ist das das letzte Geheimnis der Liebe:
Dass sie nie wirklich vergeht. Dass sie uns niemals
verlässt. Dass sie in uns lebt, solange wir bereit sind,
uns zu erinnern.
Denn Liebe ist nicht das, was wir suchen müssen. Sie ist
das, was wir sind.